In meinen ersten Lebensjahren wohnten wir neben einer katholischen Kirche. In der Kirche nahezu, denn das Haus war direkt mit ihr verbunden. Als wir später umzogen in das Haus meines Onkels, der sich im Sommer zuvor das Leben genommen hatte, war ich ein, zwei Monate bei meinen Großeltern untergebracht, die nur wenige Meter davon entfernt wohnten, und eine der wenigen Erinnerungen an diese Zeit war das einfache Läuten der nahen evangelischen Kirche, wie es abends ins Fenster wehte. Ein einsames, etwas trauriges Läuten, das mich auch die ganzen folgenden Jahre begleitet hat, in denen ich aufwuchs.

Seit ich dann nach Erlangen kam, wohnte ich - ebenso wie zwischendurch im nahe gelegenen Landkreis - nahezu immer in Sichtweite einer Kirche. Besonders eindrucksvoll war der Kirchturm der evangelischen Peter-und-Paul-Kirche in Bruck, unter dem ich mal eine Weile wohnte, um den oft ganze Krähenschwärme mit ihrem wunderbaren karrrr, karrrr, iukk kreisten. Eine Kirche mit Kirchturmuhr bedeutet hier zudem, neben dem liturgischen Läuten morgens, mittags, abends und zu den Gottesdiensten auch den Viertelstundenschlag plus Schlag zur vollen Stunde zu hören. An manchen Uhren sogar doppelt, also zum Beispiel mittags vier mal Viertelstunde, dann zwölf auf der einen Glocke und nochmal zwölf auf einer anderen. Ich habe das irgendwann mal ausgerechnet, in 24 Stunden machte das 552 Glockenschläge alleine für die Uhr. Gestört hat es mich nie.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt. Daran, dass ich ein Leben lang in der Nähe von Kirchen gelebt habe, aber ich liebe Glockenläuten. Das einsilbige schon (sofern es keine Totenglocke ist), das vielstimmige noch mehr: wenn drei oder sogar vier Glocken z. B. im Abstand a-c-d-e oder h-d-e-g ineinanderklingen, ganze Cluster von Obertönen ab- und anschwellen, immer mit kleinen Terzen zu den Grundtönen, eine minutenlang oszillierende Klangwolke in Moll, die mich jedesmal aus meinem kleinkarierten Alltag reißt, buchstäblich stehenbleiben lässt, mich innerlich plötzlich ganz weit macht. Mir ein Gefühl von Zuhause gibt und jedes Bedürfnis, zu reden, nimmt. Und ganz besonders das Läuten in der Abenddämmerung, während der Tag rundherum leise wird und seine Geschäftigkeit verliert.

Zur Zeit höre ich sie nur, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung weht. Aus unserer neuen Wohnung werde ich dagegen wieder direkt auf eine Kirche blicken. Ich freu mich drauf.
Kommentare 
[wer ohren hat zu hören, der höre]
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Seid ich in Hamburg wohne sind Kirchen so gänzlich aus meinem Blickfeld verschwunden. In Düsseldorf lebte ich genau gegenüber einer großen Kirche und sonst immer in Orten, in denen die Kirche den Mittelpunkt (und machmal tatsächlich den Ruhepol) bildeten. Das hatte immer so etwas beruhigendes, begrenzendes.
Musste bei diesem Eintrag an eine alte Kirche denken an der ich früher immer vorbeikam. Die Uhr lief nicht mehr und jedes Mal ging mir ein Satz aus einem Song durch den Kopf: "Even a stopped clock gives the right time twice a day"
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wirklich ein schöner Satz
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Geht mir genauso. Ich habe elf Jahre lang gegenüber einer evangelischen Kirche gewohnt, die 16 Glockenschläge Punkt Mitternacht haben mich auch nie gestört. Heute weht es mir allenfalls das Geläut von Stahlglocken herüber, ein Klang, den meine Ohren immer als nicht richtig empfinden.
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In Italien habe ich auch schon eine Kirche erlebt, da schepperte die Glocke via Lautsprecher von einem rauschenden Tape... ganz grausam.
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Vielleicht würde mich das auch nicht stören, wenn ich schon länger bei Kirchen wohnen würde.
Das dienstägliche 10-Minuten Gebimmel kurz vor neun der St. Bonifaz-Kirche hingegen ist mir (Büro direkt gegenüber) schon gehörig auf den Zeiger gegangen. Vielleicht auch, weil ich den Grund dafür nie rausgefunden hab. (Und weil man beim Telefonat kein Wort mehr verstanden hat....)
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ich ♥ glockenläuten! und das alltagsmäßige, dass damit verbunden war.
aber die zeiten sind hohl - das wird alles anders werden.
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in diesem Fall hat die oft verspottete Traditionsverbundenheit der Bayern und Franken etwas Gutes
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Ich habe in der Schulzeit mal ein Klangwerk für 12 Kirchenglocken (gestimmt entlang der chromatischen Skala von Es bis es') geschrieben, das mit Clusterwirkungen experimentierte. Das Stück habe ich leider verloren, aufgeführt wurde es nie. Auch mangels Kirchenglocken. Genauso wie mein Streichtrio für 4 Hörner, Triangel und einen Kehrbesen... :)
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Herrje! Man sollte eine Zeitreise machen, um die Aufzeichnungen zu retten! (So wie in Expedition Ole 95 Adam 84.)
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Angedacht hatte ich das auch schonmal. :)
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