Ich bin allergisch. Es fing vor ein paar Jahren mit leichtem Unwohlsein an und steigert sich seitdem stetig. Inzwischen bekomme ich davon Ausschlag. Nein, kein spezielles Eiweiß, keine Insektengifte oder Pollen. Es ist ein Wort, das Wort gesund. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt. »Aber«, werden Sie sich fragen, »was in aller Welt soll an gesund ungesund sein?«
Es geht, wie so oft, schon auf der sprachlichen Ebene los. Noch lange vor der wohl ewig ungeklärten Frage, was man denn nun in positiver Weise darunter verstehen soll, wundert es doch, wie ein Eigenschaftswort für den Zustand eines Lebewesens auf beliebige Nahrungs-, Hilfsmittel und Verhaltensweisen übergegangen ist, die diesen Zustand, gewissermaßen serienmäßig eingebaut und für alle Individuen gültig, hervorrufen oder verlängern sollen. Alleine das sollte schon misstrauisch machen, so wie alles, was sich den Anstrich gibt, auf alles und jeden zuzutreffen.
Doch gehen wir ins Beispiel: Schmeckt Ihr Essen fade? Kauen Sie auf unappetitlicher Masse herum? Bekommen Sie davon Blähungen? Das sind keine Kriterien; »gesund« muss es sein. Zwar hat die Information, welches Nahrungsmittel gerade als der Gesundheit förderlich zu gelten hat, weniger Halbwertszeit als das Wochenhoroskop einer Frauenzeitschrift (und i. A. eine vergleichbare wissenschaftliche Tragkraft), zwar ist das, was dem einen bekommt, für den andern unbekömmlich, aber hier geht es nicht um Fakten, sondern um Rechtfertigung. Wer Essen nur seiner angeblichen Gesundheit wegen isst, hat das Gefühl, Essen sei etwas Ungutes, was der Rechtfertigung bedürfe. In Ausnahmefällen schmeckt Essen dann sogar, obwohl es gesund ist, und dann werden die, die sich sonst für alles schämen, was sie gerne essen, begeistert davon erzählen, dass es ja auch noch total gut schmeckt! Schon beim Hinschreiben stellen sich mir die Nackenhaare auf.
»Appetitlich«, »frisch«, »gut zubereitet«, »abwechslungsreich»: Das sind Kriterien, die die Qualität von Essen ausmachen und Wohlbefinden wie Lebensqualität dauerhaft steigern.
»Gesund«, »frei von XY«, »besonders reich an Z«: Das sind Kriterien, die die Einkommen von Ernährungsberatern, Verlagen, Pharma-, und Lebensmittelkonzernen sowie ihrer Händler dauerhaft steigern. Meinem Wohlbefinden oder gar meiner Gesundheit helfen sie nicht nachgewiesenermaßen. Nun gut, die Aufrechterhaltung der Wirtschaft hat ja auch was Gutes. Aber die verkaufe man mir bitte nicht als biologische Notwendigkeit.
Kommen wir zum Sport. Einmal machte ich unter Kollegen einen augenzwinkernden Scherz über skistockschwingende Großstadtmenschen a.k.a. Nordic Walker. Ein Kollege wurde bitterböse und zischte zurück, wie man darüber lachen könne, schließlich sei es - Sie ahnen es bereits - gesund und allemal besser, als nur auf der Couch zu sitzen und fernzusehen. Abgesehen davon, dass er mich damit nicht richtig treffen konnte, weil ich nur selten fernsehe, sagt das wesentlich mehr über seine Gedankenwelt als über meine, finde ich. Und wir finden ähnliche Rechtfertigungsmuster wie beim Essen wieder.
Freude über die körperliche Leistungsfähigkeit (nicht nach dem zweiten Treppenabsatz ins Hecheln kommen), Geschicklichkeit, Spaß an der Bewegung, Ausgleich, vielleicht auch soziale Kontakte dadurch: Das sind Kriterien, die Wohlbefinden und meinetwegen »Gesundheit« steigern. Alles andere steigert nur die Verbissenheit, (wie gehabt) die Einnahmen einer ganzen Industrie und bringt mich - wenn ich es übertreibe - gerne auch etwas schneller unter die Erde.
Genuss ist böse. Genuss ist Sünde. Körperlicher Genuss hat keine Rechtfertigung (es sei denn, er ist mit Leistungsmessung und Disziplin verbunden) und gerade deshalb rechtfertigen wir uns ständig für alles, was wir einfach nur gerne mit unserem Körper machen. Früher mehr als heute war die Sexualität die Wurzel alles Bösen, das Ungezügelte, vor dem es Angst zu haben galt. Heute haben Essen und »Unsportlichkeit« diesen Platz weitgehend eingenommen. Man sehe sich nur die Werbung für »ungesunde« Produkte wie Süßwaren an, wie sie sich dieses Sündenmuster zu eigen macht. Zwar dreht sie es bewusst in ein Plädoyer für den Genuss, aber sie verwendet die Metapher nichtsdestoweniger.
Als Alternative wird angeboten, allgemein als »ungesund« geltende Produkte (Nougatcrème, Bonbons, Chips etc.) mittels Zusatz- oder Ersatzstoffen in »gesunde« zu verwandeln, gewissermaßen die Absolution für die Sünde ins Produkt gleich einzubauen (Du darfst!). Ich bin kein Theologe und kein Philosoph, aber das alles hat Religionscharakter, inklusive Heilslehrern, Sündenablass, Verfolgung von Abtrünnigen und allem, was dazugehört. Und ist bis ins Letzte unreflektiert, wird rauf- und runtergebetet an allen Orten und darf nicht hinterfragt werden.
In unheiliger Symbiose dazu: Die Illusion der vollkommenen Macht über den Körper. Die schöne neue Welt des genetisch perfekten, körperlich disziplinierten Herrenmenschen. Denn das ist klar: Keine Perfektion ohne Abwertung derer, die es nicht sind. Heute brauchen wir keinen Nationalstaat mehr dafür - heute macht es der Lebenswandel. Dein Körpergewicht entspricht nicht dem »Ideal«? Dein Kind ist behindert? Dein Busen zu groß / zu klein / zu asymmetrisch? Verachtung sei dir gewiss. (Und komme mir hier keiner mit feministischen Thesen - die schlimmste Verachtung, die ich erlebt habe, ging immer von Frauen in Richtung anderer Frauen.) Keine Normabweichung - und jeder Mensch weicht in fast allen Punkten von Normen ab - wird irgendwann davor sicher sein, nicht auf dem Index zu landen. Die Verhaltensweisen wie die körperlichen Eigenschaften. Denn die Menschen, die Macht haben wollen, brauchen Abweichler, die sie unterdrücken können, brauchen Mitläufer, die sie von ihrer Zuneigung abhängig machen und denen sie sagen können, wie sie ihre zuvor eingetrichterten Defizite wiedergutmachen dürfen. Geld ist da nur ein Zahlungsmittel, noch wichtiger ist der Gehorsam. Und das alles durchdringende, schlagkräftigste Wort in diesem Kampf um Ihr Gehirn heißt »gesund«.
Das ist keine abgehobene Debatte. Achten Sie in Ihrer Umgebung einmal darauf, wieviel Unzufriedenheit über Scham bis hin zu blankem Leid diejenigen durchleben, die sich dieser Ideologie ausgesetzt sehen und inzwischen selbst glauben, dass sie irgendwie »Schuld sind« an vermeintlicher körperlicher Unvollkommenheit oder Krankheit.
So, und wenn Sie jetzt auch ein kleines bisschen allergischer gegen das Wort geworden sind, würde ich mich freuen. Und gebe Ihnen noch ein bisschen erfrischend polemische Argumentationshilfe und Gedankenfutter mit. Denngeistige Gesundheit [*] gesundes Selbstbewusstsein und ein kritischer Geist gehen allemal vor.
Weiter mit Musik.
Es geht, wie so oft, schon auf der sprachlichen Ebene los. Noch lange vor der wohl ewig ungeklärten Frage, was man denn nun in positiver Weise darunter verstehen soll, wundert es doch, wie ein Eigenschaftswort für den Zustand eines Lebewesens auf beliebige Nahrungs-, Hilfsmittel und Verhaltensweisen übergegangen ist, die diesen Zustand, gewissermaßen serienmäßig eingebaut und für alle Individuen gültig, hervorrufen oder verlängern sollen. Alleine das sollte schon misstrauisch machen, so wie alles, was sich den Anstrich gibt, auf alles und jeden zuzutreffen.
Doch gehen wir ins Beispiel: Schmeckt Ihr Essen fade? Kauen Sie auf unappetitlicher Masse herum? Bekommen Sie davon Blähungen? Das sind keine Kriterien; »gesund« muss es sein. Zwar hat die Information, welches Nahrungsmittel gerade als der Gesundheit förderlich zu gelten hat, weniger Halbwertszeit als das Wochenhoroskop einer Frauenzeitschrift (und i. A. eine vergleichbare wissenschaftliche Tragkraft), zwar ist das, was dem einen bekommt, für den andern unbekömmlich, aber hier geht es nicht um Fakten, sondern um Rechtfertigung. Wer Essen nur seiner angeblichen Gesundheit wegen isst, hat das Gefühl, Essen sei etwas Ungutes, was der Rechtfertigung bedürfe. In Ausnahmefällen schmeckt Essen dann sogar, obwohl es gesund ist, und dann werden die, die sich sonst für alles schämen, was sie gerne essen, begeistert davon erzählen, dass es ja auch noch total gut schmeckt! Schon beim Hinschreiben stellen sich mir die Nackenhaare auf.
»Appetitlich«, »frisch«, »gut zubereitet«, »abwechslungsreich»: Das sind Kriterien, die die Qualität von Essen ausmachen und Wohlbefinden wie Lebensqualität dauerhaft steigern.
»Gesund«, »frei von XY«, »besonders reich an Z«: Das sind Kriterien, die die Einkommen von Ernährungsberatern, Verlagen, Pharma-, und Lebensmittelkonzernen sowie ihrer Händler dauerhaft steigern. Meinem Wohlbefinden oder gar meiner Gesundheit helfen sie nicht nachgewiesenermaßen. Nun gut, die Aufrechterhaltung der Wirtschaft hat ja auch was Gutes. Aber die verkaufe man mir bitte nicht als biologische Notwendigkeit.
Kommen wir zum Sport. Einmal machte ich unter Kollegen einen augenzwinkernden Scherz über skistockschwingende Großstadtmenschen a.k.a. Nordic Walker. Ein Kollege wurde bitterböse und zischte zurück, wie man darüber lachen könne, schließlich sei es - Sie ahnen es bereits - gesund und allemal besser, als nur auf der Couch zu sitzen und fernzusehen. Abgesehen davon, dass er mich damit nicht richtig treffen konnte, weil ich nur selten fernsehe, sagt das wesentlich mehr über seine Gedankenwelt als über meine, finde ich. Und wir finden ähnliche Rechtfertigungsmuster wie beim Essen wieder.
Freude über die körperliche Leistungsfähigkeit (nicht nach dem zweiten Treppenabsatz ins Hecheln kommen), Geschicklichkeit, Spaß an der Bewegung, Ausgleich, vielleicht auch soziale Kontakte dadurch: Das sind Kriterien, die Wohlbefinden und meinetwegen »Gesundheit« steigern. Alles andere steigert nur die Verbissenheit, (wie gehabt) die Einnahmen einer ganzen Industrie und bringt mich - wenn ich es übertreibe - gerne auch etwas schneller unter die Erde.
Genuss ist böse. Genuss ist Sünde. Körperlicher Genuss hat keine Rechtfertigung (es sei denn, er ist mit Leistungsmessung und Disziplin verbunden) und gerade deshalb rechtfertigen wir uns ständig für alles, was wir einfach nur gerne mit unserem Körper machen. Früher mehr als heute war die Sexualität die Wurzel alles Bösen, das Ungezügelte, vor dem es Angst zu haben galt. Heute haben Essen und »Unsportlichkeit« diesen Platz weitgehend eingenommen. Man sehe sich nur die Werbung für »ungesunde« Produkte wie Süßwaren an, wie sie sich dieses Sündenmuster zu eigen macht. Zwar dreht sie es bewusst in ein Plädoyer für den Genuss, aber sie verwendet die Metapher nichtsdestoweniger.
Als Alternative wird angeboten, allgemein als »ungesund« geltende Produkte (Nougatcrème, Bonbons, Chips etc.) mittels Zusatz- oder Ersatzstoffen in »gesunde« zu verwandeln, gewissermaßen die Absolution für die Sünde ins Produkt gleich einzubauen (Du darfst!). Ich bin kein Theologe und kein Philosoph, aber das alles hat Religionscharakter, inklusive Heilslehrern, Sündenablass, Verfolgung von Abtrünnigen und allem, was dazugehört. Und ist bis ins Letzte unreflektiert, wird rauf- und runtergebetet an allen Orten und darf nicht hinterfragt werden.
In unheiliger Symbiose dazu: Die Illusion der vollkommenen Macht über den Körper. Die schöne neue Welt des genetisch perfekten, körperlich disziplinierten Herrenmenschen. Denn das ist klar: Keine Perfektion ohne Abwertung derer, die es nicht sind. Heute brauchen wir keinen Nationalstaat mehr dafür - heute macht es der Lebenswandel. Dein Körpergewicht entspricht nicht dem »Ideal«? Dein Kind ist behindert? Dein Busen zu groß / zu klein / zu asymmetrisch? Verachtung sei dir gewiss. (Und komme mir hier keiner mit feministischen Thesen - die schlimmste Verachtung, die ich erlebt habe, ging immer von Frauen in Richtung anderer Frauen.) Keine Normabweichung - und jeder Mensch weicht in fast allen Punkten von Normen ab - wird irgendwann davor sicher sein, nicht auf dem Index zu landen. Die Verhaltensweisen wie die körperlichen Eigenschaften. Denn die Menschen, die Macht haben wollen, brauchen Abweichler, die sie unterdrücken können, brauchen Mitläufer, die sie von ihrer Zuneigung abhängig machen und denen sie sagen können, wie sie ihre zuvor eingetrichterten Defizite wiedergutmachen dürfen. Geld ist da nur ein Zahlungsmittel, noch wichtiger ist der Gehorsam. Und das alles durchdringende, schlagkräftigste Wort in diesem Kampf um Ihr Gehirn heißt »gesund«.
Das ist keine abgehobene Debatte. Achten Sie in Ihrer Umgebung einmal darauf, wieviel Unzufriedenheit über Scham bis hin zu blankem Leid diejenigen durchleben, die sich dieser Ideologie ausgesetzt sehen und inzwischen selbst glauben, dass sie irgendwie »Schuld sind« an vermeintlicher körperlicher Unvollkommenheit oder Krankheit.
So, und wenn Sie jetzt auch ein kleines bisschen allergischer gegen das Wort geworden sind, würde ich mich freuen. Und gebe Ihnen noch ein bisschen erfrischend polemische Argumentationshilfe und Gedankenfutter mit. Denn
Weiter mit Musik.