Heute musste ich raus, trotz unangenehmem Novemberwetter. Vor ein paar Tagen merkte ich, dass ich in den ganzen letzten Wochen durch den Umzug und die vielen zu erledigenden Dinge nie spazieren war und wie sehr mir der Geruch von frischem Laub fehlt. Am späten, trüben Nachmittag stiefelte ich los in Richtung Weiher und Wald. Mir fiel auf, dass die einzigen unter 70, die ganz normal spazieren gingen, Kinderwagen schiebende Eltern waren. Ansonsten scheint man sich sonntagnachmittags draußen nurmehr zum Joggen oder Herumeiern aufzuhalten, mit oder ohne klappernde Stöcke. Als ich an den Weihern ankam, dämmerte es schon und es blies ein heftiger Wind, der sich laut im meterhohen Schilf verfing. Ich lief weiter in den Wald, und zwischen all den Nadelbäumen fiel mir wieder auf, wie sehr ich hier den echten Laubwald vermisse, so wie es ihn an der Stadtgrenze zu Mülheim gab, wo ich aufgewachsen bin. Dort fuhr ich als Kind und Jugendlicher viel mit dem Fahrrad herum, meist alleine; ich liebte es, die Wege zu verlassen und vor allem im Herbst, mit den Füßen durch das hohe Laub zu stiefeln. Dieser Wald mit seinem ununterbrochenen Rauschen der nahen Autobahn war die richtige Kulisse für meine Einsamkeit, denn einsam und traurig fühlte ich mich oft, und dort konnte ich das Gefühl zelebrieren. Einmal, als es besonders heftig war, zog ich mich sogar aus, mitten im Wald. So stand ich da, ein kleiner Junge, nackt zwischen den Bäumen. Hätte mich nicht ein alter Mann entdeckt, der mir eine kräftige Ohrfeige gab, vielleicht wäre es zur Gewohnheit geworden.

In diesem Alter, so ungefähr mit sieben oder acht, legte ich mir auch einen ganz bestimmten Traum zurecht, in den ich mich meist abends vor dem Einschlafen einrollte. Ich liege in einem dunklen Waldstück, weitab vom Weg, und kann mich nicht vom Fleck rühren. Mein Bein ist gebrochen, ich rufe lange um Hilfe. Irgendwann läuft zufällig sie in der Nähe vorbei, wird auf mich aufmerksam und findet mich. Sie hebt mich hoch, ich halte mich an ihren Schultern fest, und sie trägt mich aus dem Wald, ruft einen Krankenwagen und begleitet mich zum Krankenhaus. Natürlich nicht, ohne mir in die Augen zu sehen und sich in mich zu verlieben. In der zweiten Variante des Traums tauschten wir die Rollen; diesmal war sie verletzt und ich derjenige, der sie finden würde.

Ich habe diesen Traum geliebt. Die Besetzung der weiblichen Rolle darin war, im Nachhinein gesehen, offenbar nebensächlich, meist war es ein Mädchen aus meiner jeweiligen Klasse, das mir gefiel und an das ich meine Sehnsucht knüpfen konnte. Die schöne Traurigkeit und mein Selbstmitleid waren stark und ich konnte sie auch als Jugendlicher noch stundenlang konservieren, wenn ich zuhause im dunklen Zimmer auf meinem Schrank saß, nach draußen auf die im Laternenlicht nass glitzernde Straße sah und passende Musik hörte, wobei ich ab und zu hinunter steigen musste, um den Tonarm vom Plattenspieler wieder an den Anfang zu setzen.

Heute sind von diesem Gefühl nur noch Schemen geblieben. So schwach, dass es nach ein oder zwei abschweifenden Gedanken wieder entgleitet. Die Zeit ist vorbei; ich weiß, dass ich niemanden mehr retten muss, um in meinem Wesen erkannt zu werden, und auch mich muss niemand mehr aus meiner Einsamkeit tragen. Meine Ehe war vielleicht der letzte Versuch dieses Lebensgefühls, sich durchzusetzen. Nur manchmal noch, selten, ruft es mich jetzt von weitem, besonders im Herbst. Und so konnte man heute im Halbdunkel sehen, wie eine Gestalt den Weg verließ und quer durch den Wald stolperte, zwischen eng stehenden Baumstämmen hindurch über Brombeersträucher und gefallene Äste. Wäre es nicht derart feuchtkalt gewesen, sie hätte sich womöglich mittendrin auf den weichen Boden gelegt und eine Weile so verharrt, regungslos.