Es war einmal ein Mann, der hatte einen Schwamm

Soll das ein Reim sein? Und: Soso, einen Schwamm. Viel uninteressanter kann es eigentlich nicht mehr werden.

Der Schwamm war ihm zu nass, da ging er auf die Gass'

Nass zu sein ist gewissermaßen die Essenz eines Schwamms. Trockene Schwämme sind kaum zu etwas nutze, nicht einmal gut Flüssigkeit aufsaugen können sie. Was erwartet der Mensch? Außerdem kein Grund, gleich auf die Straße zu gehen; er hätte den Schwamm auch einfach auswringen können. Was will er da draußen? Trockenere Schwämme suchen, gegen Feuchtigkeit demonstrieren?

Die Gass' war ihm zu kalt, da ging er in den Wald

Nee, ist klar. Jeder Mensch weiß ja, dass es im Wald immer wärmer als im Ort ist. Immerhin: Der Reim ist akzeptabel, und es besteht sogar Hoffnung, dort einen Schwamm zu finden.

Der Wald war ihm zu grün, da ging er nach Berlin

Was soll das nun wieder? Im Wald war es ihm offenbar immerhin trocken und warm genug, aber zu grün? Was erwartet er, Bäume aus Styropor? Und was ist mit seinem ursprünglichen Problem, dem Schwamm? Langsam glaube ich, dem Herrn kann man wohl nichts recht machen.

Berlin war ihm zu voll, da ging er nach Tirol

Hier kommt zum ersten Mal etwas wie Verständnis auf. Das Großstadtleben ist nicht jedermanns Sache. Dennoch: Ist Tirol etwa nicht grün? Aber wie ich unseren Nörgler inzwischen kenne, wird er sowieso nicht allzulange bleiben und sich mit einem weiteren fadenscheinigen Reim wieder verabschieden.

Tirol war ihm zu klein, da ging er wieder heim

Was habe ich gesagt? Tirol hat eine Fläche von mehr als 26000 Quadratkilometern! Wieviel Platz braucht der Herr denn noch? Jetzt also wieder nach Hause, das wohl nicht annähernd so groß sein dürfte. Man mag gar nicht an die ganze Energie denken, die er mit seiner ziellosen Reiserei verschwendet hat. Wenn er wenigstens zufrieden wäre.

Daheim ging er ins Bett und wurde dick und fett.

Einfach so? Nur vom Rumliegen? Wer bringt ihm sein Essen? Immerhin, das Ende des »Gedichts« trägt eine zeitgemäße Botschaft: Zuwenig Bewegung fördert Übergewicht und koronare Herzkrankheiten. Warum der Autor den Protagonisten dafür zuvor auf eine halbe Weltreise geschickt hat (wegen eines nassen Schwamms!), bleibt unklar. Es kann nicht verwundern, dass nach der Lektüre solch hanebüchener Reime und sinnloser Tätigkeiten die heutige Jugend derart schlecht im PISA-Test abschneidet und gemeinhin ihre Zeit mit nichtsnutzigen Aktivitäten verbringt. Was unsere Jugend braucht, sind tatkräftige Vorbilder mit klaren Zielen, die aus nachvollziehbaren Gründen handeln und Staat und Wirtschaft voran bringen, anstatt wie der Protagonist auf Kosten von Gesundheits- und Sozialkassen hinter wirren Idealen persönlichen Glücks herzulaufen. Lediglich die anfängliche örtliche Flexibilität des Bohèmiens kann in diesem Sinne als lobenswert gelten und sollte allgemein stärker betont werden. Vom pädagogischen Gebrauch des Machwerks in dieser Form ist allerdings insgesamt abzuraten.
Kommentare 
Sehr schön!
Vieleicht sollten Sie auch gängige Kinderlieder nicht aussparen von Ihrer berechtigten Kritik. Auf einer einschlägigen CD, die meine Frau jüngst erwarb, ist ungelogen ein Titel drauf, den ich vorsichtigerweise mal so paraphrasieren möchte: "Zehn wachstumsmäßig herausgeforderte indigene Einwohner Afrikas". Unter welchen grauenhaften Umständen diese indigenen Einwohner nach und nach dahingerafft werden, das erspare ich Ihnen lieber an dieser Stelle. Ich erwäge ernsthaft, den Hersteller/Vertreiber dieses Tonträgers schonungslos anzuprangern ob dieses unzeitgemäßen Liedguts.

Ich hatte mir unlängst auch vorgenommen, mal ein paar Auszüge aus zeitgemäßen Kinderbüchern zur kritischen Würdigung ins Blog zu stellen. In einem Bilderbuch aus den 90er Jahren ist unter dem Stichwort "Telefon" ein Wählscheibenapparat der Baureihe W 61 abgebildet, wie ihn meine Eltern im Flur stehen hatten, als ich noch in Seppelhosen rumhüpfte. Solche Antiquitäten gehören ins Postmuseum, aber nicht in ein Kinderbuch. Kein Wunder, wenn Deutschland in der TK- und IT-Branche nternational den Anschluss verliert...
[ link ]
"Wachstumsmäßig herausgeforderte indigene Einwohner Afrikas" - großartig, vielen Dank! :)
[ link ]
wir sagten früher auch: Daheim ging er ins Bett und streckt die Füß bis an die Deck.
[ link ]
Das wäre ja immerhin sportlich. Sehr lobenswert.
[ link ]
Lassen Reim, Inhalt, Witz und Originalität jetzt auch schon bei den Kindern nach: Es war einmal ein Mann, der klettert auf die Stang', die Stang' war ihm zu kurz, da ließ er einen Furz.
[ link ]
Der Furz roch ihm zu arg
da kauft' er sich nen Sarg...
[ link ]
Der Furz roch ihm zu arg, denn er war von ...

In der Folge stand der Reim im Vordergrund: Den Furz steckt' er in die Tasch, da war er (es) eine Flasch', die Flasch' stellt' er ins Spind, da war's ein kleines Kind, das Kind sperrt' er in' Stall, da war's ein großer Ball.

Aber das Ende war besser ausgestaltet: Den Ball warf er in die Höh', da waren's lauter Flöh'.
[ link ]