Es ist ja oft so: Man lernt eine gute Geschichte oder Musik[*] in einer bestimmten Interpretation kennen und damit setzt diese Interpretation den Standard. Alle späteren (oder auch nur später kennengelernten) Versionen werden es schwer haben, dagegen zu bestehen. Die Sinfonie setzt ein, man schlägt die Augen auf, ruft: »Mama!«, und später wird keine andere Aufnahme je so klingen wie Mama - auch wenn wir auf der Party unserem Bekannten weismachen wollen, sie sei nur deswegen die beste, weil sie erstens und zweitens, und überhaupt so tun, als hätten wir uns bewusst für sie entschieden.

Jedenfalls.[**] Unter allen Pinocchio-Adaptionen ist meine Mama die italienische Verfilmung aus dem Jahr 1971. Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich sie gesehen hatte, vermutlich war es wohl im Alter von sechs Jahren und in der ARD, wie man jetzt nachlesen kann. Auch hatte ich damals wohl mindestens eine Folge versäumt, soviel wusste ich noch. Woran ich mich aber vor allem erinnern kann, ist die Traurigkeit, die dieser Film mit seiner Titelmelodie (die ich seitdem nie vergessen hatte) und der alles andere als niedlichen Umsetzung in mir auslöste; eine große, schöne Traurigkeit angesichts der rauen Wirklichkeit eines italienischen Bergdorfs im Winter, des herzensguten Schreiners Gepetto, der so bettelarm ist, dass er sein Essen aus harten Brotresten mit Regenwasser zubereiten muss und sich zwischendurch im Stall eines Nachbarn am Esel wärmt, dann die vielen egoistischen und hinterhältigen Menschen rundherum und mittendrin der naiv-freche Lausejunge Pinocchio, durch Feenzauber zum Leben erweckt aus einer Holzpuppe, die sich Gepetto als Ersatz für einen Sohn geschnitzt hatte.

Wo doch in der ARD seit jeher Filme und Serien immer wiederholt und durch die Dritten Programme gereicht werden: diese hier merkwürdigerweise kaum, zumindest bekam ich sie nie wieder zu Gesicht oder erfuhr davon, dass sie noch einmal ausgestrahlt wurde. Stattdessen gab es nur die Zeichentrickserie, die sich überall als der Pinocchio durchsetzte, und mich nicht zuletzt aufgrund der Ähnlichkeit zu Heidi, Marco und den vielen anderen Serien mit ihren merkwürdig mimiklosen und großäugigen (wie ich später erfahren sollte: japanischen) Figuren eher abstieß. Zumal mit einem Mal eine Niedlichkeit zelebriert wurde, die dem alten Film abging. Schon dieser dämliche Titelsong: »Kleines Püppchen, freches Bübchen...«

Nee, diese Mama mochte ich nicht. Bislang war der Realfilm, in dem übrigens Schauspieler wie Nino Manfredi, Vittorio de Sica, Mario Adorf und Gina Lollobrigida mitspielen, außer in Form privat mitgeschnittener Videos auf Ebay wohl nicht zu haben. Das hat sich mittlerweile geändert; so gibt es zumindest eine konzentrierte Spielfilmfassung, die neben dem Originalton auch mit englischer Synchronisation aufwarten kann. Doch auch die komplette Serie, im Original fünf mal eine Stunde, habe ich endlich entdeckt, wenn auch leider ausschließlich auf Italienisch. Ein wenig Gegugel sowie eine halbe Stunde Webformularausfüllen später war die Doppel-DVD bestellt. Unter anderem musste dazu erst geklärt werden, was »Anagrafica / Ragione Sociale« sein soll (»Anrede«), wie man einen deutschen Ort in ein Webformular für italienische Orte bringt (»Äh, was schreib ich denn jetzt noch bei Località?«) und zudem bin ich jetzt stolzer Besitzer einer italienischen Steuernummer, die das Formular dringend von mir einfordern wollte und die letztlich eine andere Webseite freundlicherweise für mich erzeugt hat. Fragen Sie nicht, ich habe keine Ahnung.

Entgegen der Erwartung, gerade 21 Euro (inklusive Versand) im adriatischen Meer versenkt zu haben, kam die DVD keine 7 Tage später wohlerhalten an. Ausstattung, Beschreibung und Extras sind praktisch nichtexistent, aber die Hauptsache ist drauf. Und tatsächlich so ergreifend wie in meiner und der Möwe Erinnerung. Allein schon die stille, unaufgeregte Erzählweise ist eine Wohltat (bei aktuellen Kinderfilmen muss man ja schon froh sein, wenn nicht mittendrin ein Knirps anfängt zu räppen). Ton und Schauspieler sind für Italienischkundige auch ohne Untertitel gut verständlich. Die erste Folge haben wir jetzt angesehen, die weiteren sind an den nächsten Wochenenden dran. Einfach schön.

[*] funktioniert auch mit Betriebssystemen oder Automarken
[**] Formulierung beim Herrn undundund geklaut
Le avventure di Pinocchio,
ed. integrale (303 min, 2 DVD)
Kommentare 
Mir dämmert es ganz schwach. Und wenn ich mich an die richtige Serie erinnere, dann war ich damals auch begeistert, weil die Figuren so glaubwürdig und nicht so plump waren, wie sonst so oft im deutschen Kinderfernsehen. Eigentlich ein perfektes Herbstprogramm. Und somit perfekt für diesen Sommer. (Würde, bei Gelegenheit und Interesse, gegen eine Kopie von "Der fliegende Ferdinand" tauschen ...)
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Das wäre ein Angebot! Muss mal sehen, ob ich mit der Technik klarkomme.
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Je älter man wird...
...desto mehr lernt man das Ursprüngliche zu schätzen, das zu Zeiten entstanden ist, als es den qualitäts-killenden Quotenwahn noch nicht mal ansatzweise gab. Eine meiner Lieblingsserien war/ist »Das feuerrote Spielmobil«, namentlich die in der damals neuen Bluescreen-Technik gedrehten Märchen-Verfilmungen mit recht expressionistischen Hintergrundbildern. Die wird's wohl nie auf DVD geben, und so muß ich zusehen, meine alten Betamax-Mitschnitte vor deren endgültigen Verfall ins digitale Zeitaler herüberzuretten...

Es gäbe noch viele Schätze zu heben und zu bewahren, an deren endgültiges und komplettes Verschwinden keiner geglaubt hätte: So ist zum Beispiel von der legendären Adventsvierteiler-Verfilmung des Don Quijote von der Mancha mit dem großen Josef Meinrad in der Titelrolle heute keine wirklich ansehbare Kopie mehr erhalten: Es existiert lediglich noch eine arg verrauschte Funkhaus-Fassung mit nicht ausblendbarem, riesigem Zeit-Zählwerk. Eine bis heute maßstabssetzende Produktion, heute so gut wie verloren! Statt dessen gibt es vom trashigsten Zombie-Schund DVDs ohne Ende...

Von daher kann ich die Freude über eine (wenn auch spärlich ausgestattete) Pinocchio-Edition gut nachvollziehen! Mein Favorit ist übrigens die Walt Disney-Fassung von 1940, die ich auf NTSC-Laserdisc im Original bewahre. Sicher gänzlich anders, aber nicht minder sehenswert!
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...noch viele Schätze zu heben und zu bewahren...
Wie ich letztens las, wurde so auf Fan-Betreiben hin z. B. auch eine nur einmal ausgestrahlte Folge von "Ein Herz und eine Seele" aus den Archiven gehoben, von der selbst die ARD behauptete, es hätte sie nie gegeben...

Laserdisc! - sollte man die nicht besser auch schon bald digitalisieren? Über die Disney-Fassung hatte ich beim Nachforschen zu meinem Beitrag auch gelesen und die Figur kommt mir zumindest bekannt vor. Ich glaube, ich bleibe aber trotzdem bei meiner Mama. :)
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Ja, meine 100 großen LaserDiscs bereiten mir in der Tat ein wenig Sorge, insbesondere meine Lieblinge, die Opern-Verfilmungen des großen Jean-Pierre Ponnelle: Manche Scheiben leiden unter Laser Rot, sprich dem Zersetzen der Informationsschichten durch den (langfristig ungeeigneten) Kleber, mit dem die beiden Scheibenseiten verbunden wurden. Dagegen gibt es leider kein Mittel... Langfristig wil ich da versuchen, mir DVD-Ersatz zu verschaffen.
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Oh ja, unbedingt! Ich kann Gina Lollobrigida nie sehen, ohne an ihre blauen Haare in dieser Verfilmung zu denken. Hat auch mich tief geprägt.
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In der Tat sehr blau, die Haare.
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so halb und halb off-topic.

ich klaue ständig irgendwo etwas, herr bluesky. gerade eben zum beispiel. in der cafeteria. sitzt ein mädchen neben mir und redet zehn minuten ohne punkt und komma auf ihren sehr abwesenden tischnachbarn ein, den sie ganz zum schluss fragt: "verstehst du, was ich meine?"

wird irgendwann verwertet.
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Ich habe ja auch kein schlechtes Gewissen, sondern drücke meinen Dank für dieses überaus nützliche "Jedenfalls." aus. Verstehst du, was ich meine?
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rotscher.
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Floh im Ohr
Also Herr blue sky, mit diesem Beitrag haben Sie in mir was ausgelöst: Ich bin in mein Video-Archiv hinabgestiegen und habe TV-Mitschnitte, insbesondere von »Kindersendungen«, aus den 1980ern gesichtet. Demnächst (noch heute abend oder morgen) wird es darüber bei mir was in der Abteilung Nostalgisches zu lesen geben, und ich bin mal gespannt, ob Sie da auch Wiedererkennung haben werden!
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Besser Flöhe als Zeck Das freut mich! Da bin ich auch gespannt.
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