Die Menschen waren früher höflicher. Familie, Leistungswille, christliche Werte. Jemanden am Boden liegenden hat man nicht auch noch getreten. Gegenseitiger Respekt. Weniger Gewalt. Sexuell anständig. Ordentlich. Aufrichtig waren die Leute. Haben nicht einfach weggesehen, wenn jemandem etwas angetan wurde.

Heute dagegen! Wie roh und schlimm alle geworden sind. Und weil die Menschen früher ganz anders waren - hilfsbereit, gewaltfrei, couragiert - , haben diese vielen anständigen, couragierten Menschen ja damals auch zugesehen, mitgeholfen, veranlasst, wie Millionen Menschen gedemütigt, deportiert, gequält, vergewaltigt, getötet wurden, haben die eigenen Nachbarn und Verwandten denunziert, sich an fremden Gütern bereichert oder vielleicht auch einfach nur weggesehen und ordentlich das Maul gehalten.
Ich gehe auf die Menschen zu, die mir ähnlich sind,
und der Spiegel, den ihnen meine Bilder vorhalten,
ist derselbe, in dem auch ich mich anschaue
(Willy Ronis)

Willy Ronis: L'homme seul, Noël
Merkwürdig, wenn nach Jahren, die ich mich schon für Fotografen der Agentur Magnum interessiere (allen voran Cartier-Bresson, aber auch Capa, Erwitt, Burri und andere), plötzlich ein weiterer Fotograf aus ihrem Umfeld auftaucht, dessen Namen ich zuvor noch nie gehört hatte: Willy Ronis. Er war unter anderem mit Robert Doisneau, Robert Capa und David Seymour Chim befreundet und lebte und fotografierte hauptsächlich in Paris und Frankreich. Selbst in einfachen Vierteln aufgewachsen, interessierten ihn in erster Linie einfache Menschen, Alltagssituationen, das Leben der Arbeiter: »Mich hat nie das besonders Ungewöhnliche, das nie zuvor Gesehene, das Außerordentliche gereizt, sondern stets das typischste Vorkommnis in unserem alltäglichen Leben.«

Jetzt hat mir meine Schwester den Band Willy Ronis - Gestohlene Augenblicke geschenkt, der auf 192 Seiten in vielen Bildern einen Querschnitt seines Schaffens von 1926 bis 2001 versammelt (er hat erst vor fünf Jahren, im Alter von 91, aus gesundheitlichen Gründen mit der Fotografie aufgehört). Ich kannte ihn wie gesagt nicht und bin vom ersten Durchblättern an begeistert. Seine Fotografien sind nicht nur oft berührend, dazu ästhetisch und handwerklich perfekt, sie haben auch nahezu immer eine Ebene, die über die reine Abbildung hinaus geht und weitere Assoziationen knüpft, so wie auf dem Foto, das aus einem Schulfenster heraus eine Reihe von Kindern draußen zeigt, die von einer Reihe kleiner Blumentöpfe und Pflänzchen auf der Fensterbank kommentiert werden. Oder die Besucher des Louvre, die - vor einem Gemälde einer Massenszene anlässlich einer Krönung stehend - selbst eine solche bilden und das Gemälde zu vervollständigen scheinen.

Ein erschwinglicher Band mit vielen großartigen Fotografien, die ohne Effekt und Knall daherkommen und in deren Betrachtung man sich versenken kann.