Ein Mann besaß einen prächtigen Garten. Darin gab es Wiesen in der Sonne, Schatten spendende Obstbäume, Sträucher mit süßen Beeren, duftende Blumen, und die Luft war voll vom leisen Murmeln kleiner Bäche, dem Rauschen der Gräser im Wind und dem Gesang von Vögeln. Keiner, der diese Oase abseits des Straßenlärms besuchte, der nicht von der Ruhe und Gelassenheit erfasst wurde, die diesen Ort umgab. Das freute den Besitzer, der selbst gerne in seinem Garten spazierte und mit diesem oder jenem Besucher einen Plausch oder ein tieferes Gespräch hielt, wie es sich ergab.

Der Garten war sehr groß, doch nur wenige hatten bislang hierher gefunden. Das tat dem Mann leid, so ließ er in den Straßen Schilder aufstellen, die den Weg zeigten. Doch die meisten Menschen liefen achtlos an ihnen vorbei oder verstanden sie nicht. Er selbst war zu gebrechlich, so kam er eines Tages auf die Idee, einige Helfer zu berufen, die vor den oft unscheinbaren Toren des Gartens stehen oder durch die Stadt gehen und alle Menschen in seinen Garten einladen sollten, ganz besonders aber die, die müde und abgekämpft waren. Die Helfer, die er ausgesucht hatte, fühlten sich geschmeichelt, und anfangs kamen sie ihrer Aufgabe mit Freude nach und machten den Garten bekannt.

Doch wie der Garten von immer mehr Menschen aufgesucht wurde und die Helfer merkten, dass es dem Besitzer tatsächlich ernst war, seinen Garten für alle zu öffnen, wurden sie ärgerlich. Wie konnte er mit einem Lächeln darüber hinweg sehen, dass manche Menschen Zweige abrissen oder Blumen zertrampelten? Wie konnte es sein, dass selbst Taugenichtse hinein und unter Bäumen ihren Rausch ausschlafen durften? So begannen sie, darauf zu achten, wen sie einluden. Und da der alte Besitzer nicht sorgsam genug mit seinem Eigentum umzugehen schien, fühlten sich immer mehr seiner Helfer als Hüter des Gartens, postierten sich vor den Toren und wiesen einzelne Besucher ab. Sie schwärmten noch laut von seiner Größe und Schönheit, bestimmten aber gleichzeitig Regeln, ohne deren Einhaltung sie - im Auftrag des Besitzers, wie sie sagten - nun niemanden mehr passieren lassen dürften. Die einen ließen nur noch Männer hinein, die zweiten nur noch die Ausgeglichenen, die dritten achteten auf die Kleidung, die vierten auf den Familienstand und so weiter, und alle zusammen sahen mit unverhohlener Genugtuung, wie sich manche Menschen abmühten, um den Anforderungen zu genügen und in den Garten zu gelangen. Nicht wenige Helfer verlangten gar Eintritt, den sie in ihren Taschen verschwinden ließen.

Auf diese Weise fanden nach und nach immer weniger Menschen in den Garten. Draußen vor den Mauern irrten derweil die Stadtbewohner in den staubigen Gassen umher auf der Suche nach Rast. Und so geschah es, dass man mit der Zeit in der ganzen Stadt den unbekannten Garten und die angebliche Großzügigkeit seines Besitzers verfluchte.
Kommentare 
So schön hat einen Tauschbörsenserver das Internet lange keiner mehr beschrieben.
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eine schöne geschichte, und so wahr, passt auf viele situationen und konstellationen und orte. von dir?
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Danke, ja.
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Wenn Sie nicht aufpassen, dann kommt bald ein Engel von oben und beauftragt Sie das Neue Testament neu zu verfassen.
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Haha, wohl besser nicht. Obwohl, käme auf die Bezahlung an.
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Eine wunderbare, toll geschriebene Geschichte. Diese Lektüre versüßt mir den Tag.
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Tja, auch Geben ist nicht einfach ...
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Fabelhaft erzählt!
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Vielen Dank! Schön, dass es gefällt, ich hatte erst Bedenken.
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So etwas meinte ich drüben bei Ole.
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Da ist doch Zeit & Gelegenheit, an das Gedicht von Marie Luise Kaschnitz zu erinnern:


Ganz plötzlich ist der Park gestorben
Streckt kahle Äste in den grauen Himmel
Einst zeigte ich alles meinen Freunden
Seht doch, die Bäume! Seht doch, die Blumen! Seht doch, die Vögel!
Da lachten sie und sagten
Man sollte dir alles schenken
Und ich antwortete
Aber mir gehört doch alles
Niemand muß ihn mir schenken
Und die Menschen, die hier umhergehen
Würde ich immer hereinlassen
Mir gehört doch alles

Doch jetzt, wo alles grau und schäbig ist
Ich würde gerne fortbleiben
Bis das erste junge Grün erscheint
Aber ich bin hier, stehe ihm bei
Wie einem Kranken
Die dünnen braunen Gräser
Die blinden Teiche
Jedes Jahr muß ich das wieder ertragen
Dieses traurige Sterben
Und ich kann nicht ausweichen
In ein wärmeres Land
Oder in Stein und Mauern
Muß bleiben, den ganzen Winter
Und auf ihn aufpassen
Bis das Licht wächst

Und ich weiß
Seine Krankheit ist nicht zum Tode
Jetzt schon entstehen verborgen seine Knospen
Doch mich, seinen Hüter,
Kann vor dem endgültigen Untergang niemand retten
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Aber mir gehört doch alles
Niemand muß ihn mir schenken


Genau das ist es. Vielen Dank.
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