geschichten [x] 
»Mama! Mama komm!«
Daniela stand vom Schreibtisch auf und ging ins Kinderzimmer. »Warum schläfst du denn noch nicht, hm?«, fragte sie leise, während sie Lukas eine Strähne aus dem Gesicht strich.
»Mama, stimmt das, wenn man ganz viel Kaugummi isst, werden dann die Zähne wacklig und fallen aus?« Er klang besorgt. Daniela lächelte im Halbdunkeln.
»Nein, mein Schatz, wer erzählt denn so einen Unsinn?«
»Der Benny im Kindergarten... Auch nicht, wenn man immer ganz feste kaut, so mit ganz vielen Kaugummis? Ich hab doch auf dem Geburtstag so viele gegessen.«
»Nein, auch dann nicht, das verspreche ich dir. Der Benny ist ein Blödmann. Jetzt versuch aber mal zu schlafen, es ist schon spät.« Sie beugte sich übers Bett und gab Lukas einen Kuss auf die Stirn. »Gute Nacht, mein Schatz.«
»Nacht, Mama.«

Daniela ließ die Kinderzimmertür einen Spalt offen, als sie in den Flur trat, nahm Zigaretten und Feuerzeug aus ihrer Jackentasche und ging damit ins kleine Wohnzimmer. Draußen schimmerten die letzten Reste des Abendrots, mit dem gerade ein sonniger Junitag zuende gegangen war, und als sie das Fenster öffnete, drang angenehme Kühle herein, an ihre Stirn und ihren Hals. Sie atmete tief durch, stützte ihre Ellenbogen auf die Fensterbank und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich sah sie hinaus, auf den Himmel, die Häuser ringsum und den Hof unter ihrem Fenster mit seiner kleinen Wiese, dem Sandkasten und dem großen Tisch mit den Bierbänken, während immer noch irgendwo Kinder auf der Straße spielten. Es war sicher schon zehn Uhr.

Sie hatte gerade ein paar mal an der Zigarette gezogen, als das Telefon klingelte. Daniela nahm das Mobilteil vom Esstisch und hob ab: »Ja?«
»Hallo Daniela, ich...« Die Stimme am anderen Ende stockte mit einem Schluchzen.
»Mein Güte Birgit, was ist los?«
»Manuel will nichts mehr mit mir zu tun haben.« Birgit heulte richtig los.
»Oh mei....« Daniela ging zurück zum Fenster und griff ihre glimmende Zigarette von der Fensterbank. »Aber warum das denn?« Sie inhalierte und blies den Rauch in die Abendluft. Birgit brauchte etwas Zeit, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»Er geht zu seiner Frau zurück, sie hat Krebs.«
»Krebs?«
»Ja, Brustkrebs mit Metastasen, gestern kam die Diagnose. Sie brauche ihn jetzt und vor allem müsse er sich jetzt um seine Tochter kümmern. Er meint, er hat sich da entscheiden müssen, deswegen will er den Kontakt mit mir abbrechen. Ich hab ihn angefleht, aber er will nicht mal mehr mit mir sprechen, Daniela, ich verstehe das nicht...« Birgits Worte wurden wieder von Schluchzern erstickt.

»Sprechen? Habt ihr endlich miteinander telefoniert?«
»Nein, nein. Wie immer nur im Chat. Ich hätte so gern mal seine Stimme gehört. Aber er hat ja nur chatten wollen, nie seinen Namen verraten, seine Stadt oder Telefonnummer, kein Foto... Ach verdammt, es gibt überhaupt nichts, was ich von ihm habe, außer den Mails und ein paar SMS.«
»Aber da hast du doch seine Nummer, in der SMS.«
»Nein, die hat er mir über so einen Internetdienst geschickt. Daniela, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich denke den ganzen Tag an ihn. Manuel ist so ein toller Mann, es ist... ich hab das Gefühl, auf irgendeine Weise würden wir uns schon ewig kennen, verstehst du? Ich hab dir doch noch erzählt, dass er gerne segelt. Stell dir vor, er wollte im September nach Elba. Ausgerechnet Elba! Er meinte, er würde mich gerne mitnehmen auf seinen Törn. Und dann haben wir uns ausgemalt, wie wir abends vielleicht gemeinsam essen gehen, und wie schön es wäre, nachts am Wasser entlang zu laufen... Ich hab mich noch nie so aufgehoben gefühlt.«
Daniela schüttelte den Kopf. »Aber was ist denn mit Robert? Der würde dich auf Händen tragen. Du hast dich bei ihm immer geborgen gefühlt, hast du gesagt. Hat er denn nicht gemerkt, was mit dir los ist?«
»Ach was, nein. Heute abend ist er gar nicht da, irgendein Geschäftsessen. Früher war da viel, ja. Aber jetzt hängt er nur noch depressiv vor dem Fernseher und schaut mich mit Dackelblick an. Als ob ich alleine schuld wäre, dass es zwischen uns nicht mehr so klappt. Und dann hat er immer für alles Verständnis, bloß nie den Mund aufmachen oder anecken. Ich halte das nicht mehr lange aus. Und, glaub mir, er hat keinen Schimmer, was in den letzten zwei Monaten mit mir passiert ist, seit ich Manuel kennengelernt habe. Er würde es auch nicht verstehen.«

»Ehrlich gesagt: Verstehen tu ich das auch nicht.« Daniela drückte ihre Zigarette energisch auf dem Fensterbrett aus und warf sie in einen Plastikbecher. »Ich meine, was findest du an diesem Chat? Da treffen sich irgendwelche einsamen Leute an einem virtuellen Ort, man weiß nie, mit wem man es zu tun hat... Ich verstehe nicht, wie man nur noch vor dieser Kiste sitzen kann, statt etwas Richtiges mit realen Menschen zu unternehmen. Ich hab dich so oft gefragt, ob wir was zusammen machen, mal wieder ins Kino gehen oder einen trinken. Früher haben wir uns auch mal was über uns erzählt. Aber seit ein paar Monaten dreht sich bei dir alles nur noch um diese Chatter; ich kann mir schon diese ganzen komische Namen nicht merken. Und am Ende verliebst du dich auch noch: In ein paar Zeilen Text auf einem Bildschirm. Mensch, Birgit.«

»Verdammt, das waren keine paar Zeilen Text!«, brach es aus Birgit hervor. »Dahinter saß ein Mann, der hat mich verstanden. Ich weiß nicht, wann du das letzte Mal sowas erlebt hast. Wie der erzählt hat und auf mich eingegangen ist, das tat so gut, das war echt. Wie behutsam er war, als ich ihm von meinem Unfall vor vier Jahren erzählt habe. Oder welche Gedanken er sich um seine Tochter macht. Und trotzdem kein Weichling wie Robert.« Birgit hörte für ein paar Sekunden auf zu reden, dann hörte man sie schneuzen. Sie wurde etwas ruhiger. »Vielleicht ist das auch das Problem. Wenn er sich für etwas verantwortlich fühlt, zieht er das durch. Ich finde es ja sogar toll, dass er seiner Frau jetzt beistehen will. Und dass er sich so um seine Tochter kümmert. Mein Gott, wie furchtbar muss es für ein kleines Kind sein, wenn die Mama vielleicht stirbt. Ich... mich nimmt sowas total mit, du kennst mich. Aber warum will er gleich gar nichts mehr von mir wissen? Er hat mir doch noch gesagt, wie froh er ist, mich getroffen zu haben. Und ich würde ihm so gerne helfen.«

Birgit schniefte und schluckte. Daniela stand noch immer am Fenster. Draußen waren die letzten Reste Abendlicht verschwunden und es begann, frisch zu werden. Sie schloss das Fenster, ließ die Jalousien herunter und setzte sich im Dunkeln an den Esstisch. »Ach Mensch...« Ihre Augen schimmerten feucht.
»Ich hab mich einfach verliebt. Und jetzt haut er wieder ab.«
»Mm-mh.« Beide schwiegen einen Moment.
»Weißt du was, Birgit, komm doch einfach her. Wir reden noch ein bisschen, trinken ein Glas Wein und du übernachtest bei mir. Haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Was meinst du?«
»Danke, das ist lieb. Aber ich glaube, ich muss jetzt ein bisschen allein sein. Vielleicht schau ich in den Chat, ob er nochmal kommt. Oder ich sollte ihm eine Mail schreiben...«. Birgits Stimme klang mit einem Mal fester. »Du, ich muss jetzt aufhören. Gute Nacht, Daniela, ich melde mich.«
»Gute Nacht«, wollte Daniela antworten, doch Birgit hatte bereits aufgelegt.

Daniela blieb noch eine ganze Weile auf dem Stuhl sitzen und strich mit dem Daumen gedankenverloren über die Telefontasten. Schließlich stand sie auf, ging zum Kühlschrank der kleinen Küchenzeile und nahm einen großen Schluck aus der Mineralwasserflasche. Dann machte sie endlich mit der kleinen Stehlampe Licht, klappte die Couch zum Schlafen aus und bezog sie mit ihrem Laken und Bettzeug.

Auf dem Weg ins Bad bemerkte sie, dass der Computer im kleinen Arbeitszimmer noch lief. Als sie mit der Maus »Computer ausschalten« angeklickt hatte, fiel ihr Blick auf die beiden Ringbuchblätter, die als Gedächtnisstütze neben der Tastatur lagen. Neben einigen Passwörtern hatte Daniela sie eng mit Details zu Manuels Biographie beschrieben, so wie sie sie im Chat nach und nach erfunden hatte. Für einen Moment legte sie den Kopf schräg und las. Dann strich sie mit einem Kugelschreiber etwas durch, faltete die Zettel und steckte sie wieder ins Regal zwischen zwei Bücher. Nachdem sie hinausgegangen war, beleuchtete der Monitor noch eine Minute fahl den Raum, dann wurde er schwarz und schaltete mit einem Knistern auf Standby.
Ein Mann besaß einen prächtigen Garten. Darin gab es Wiesen in der Sonne, Schatten spendende Obstbäume, Sträucher mit süßen Beeren, duftende Blumen, und die Luft war voll vom leisen Murmeln kleiner Bäche, dem Rauschen der Gräser im Wind und dem Gesang von Vögeln. Keiner, der diese Oase abseits des Straßenlärms besuchte, der nicht von der Ruhe und Gelassenheit erfasst wurde, die diesen Ort umgab. Das freute den Besitzer, der selbst gerne in seinem Garten spazierte und mit diesem oder jenem Besucher einen Plausch oder ein tieferes Gespräch hielt, wie es sich ergab.

Der Garten war sehr groß, doch nur wenige hatten bislang hierher gefunden. Das tat dem Mann leid, so ließ er in den Straßen Schilder aufstellen, die den Weg zeigten. Doch die meisten Menschen liefen achtlos an ihnen vorbei oder verstanden sie nicht. Er selbst war zu gebrechlich, so kam er eines Tages auf die Idee, einige Helfer zu berufen, die vor den oft unscheinbaren Toren des Gartens stehen oder durch die Stadt gehen und alle Menschen in seinen Garten einladen sollten, ganz besonders aber die, die müde und abgekämpft waren. Die Helfer, die er ausgesucht hatte, fühlten sich geschmeichelt, und anfangs kamen sie ihrer Aufgabe mit Freude nach und machten den Garten bekannt.

Doch wie der Garten von immer mehr Menschen aufgesucht wurde und die Helfer merkten, dass es dem Besitzer tatsächlich ernst war, seinen Garten für alle zu öffnen, wurden sie ärgerlich. Wie konnte er mit einem Lächeln darüber hinweg sehen, dass manche Menschen Zweige abrissen oder Blumen zertrampelten? Wie konnte es sein, dass selbst Taugenichtse hinein und unter Bäumen ihren Rausch ausschlafen durften? So begannen sie, darauf zu achten, wen sie einluden. Und da der alte Besitzer nicht sorgsam genug mit seinem Eigentum umzugehen schien, fühlten sich immer mehr seiner Helfer als Hüter des Gartens, postierten sich vor den Toren und wiesen einzelne Besucher ab. Sie schwärmten noch laut von seiner Größe und Schönheit, bestimmten aber gleichzeitig Regeln, ohne deren Einhaltung sie - im Auftrag des Besitzers, wie sie sagten - nun niemanden mehr passieren lassen dürften. Die einen ließen nur noch Männer hinein, die zweiten nur noch die Ausgeglichenen, die dritten achteten auf die Kleidung, die vierten auf den Familienstand und so weiter, und alle zusammen sahen mit unverhohlener Genugtuung, wie sich manche Menschen abmühten, um den Anforderungen zu genügen und in den Garten zu gelangen. Nicht wenige Helfer verlangten gar Eintritt, den sie in ihren Taschen verschwinden ließen.

Auf diese Weise fanden nach und nach immer weniger Menschen in den Garten. Draußen vor den Mauern irrten derweil die Stadtbewohner in den staubigen Gassen umher auf der Suche nach Rast. Und so geschah es, dass man mit der Zeit in der ganzen Stadt den unbekannten Garten und die angebliche Großzügigkeit seines Besitzers verfluchte.
 geschichten [x]