Ich bin ja ein wenig gehemmt, wenn es darum geht, Fremden mit der Kamera auf die Pelle zu rücken. Die Deckung als außenstehender Beobachter zu verlassen und mich selbst — anstatt mittelbar mit dem Teleobjektiv aus der Entfernung — in die direkte Nähe der Menschen zu begeben, fällt mir schwer, wenn es nicht gerade Verwandte oder Freunde sind. Schon zum Reflex geworden ist meine Reaktion, wenn ich beim Blick durch den Sucher bemerke, dass mich jemand anstarrt: Ich ziehe die Kamera weg und blicke dabei an ihm vorbei, als hätte ich ihn gar nicht fotografiert.

Gut, auch mit Teleobjektiv sind gute Bilder möglich. Doch wenn es um Action geht, darum, Menschen in der Bewegung des Augenblicks einzufangen, dann trifft schon Robert Capas Ausspruch, wonach du, wenn deine Bilder nicht gut genug sind, wohl nicht nah genug dran warst. Wenn viele Menschen sich gleichzeitig bewegen, entstehen vor dem Auge in Sekundenbruchteilen kräftige Bilder und verfallen ebenso schnell wieder in belanglosen, optischen Wirrwarr. Das von ruhiger Warte aus zu beobachten und im rechten Moment festzuhalten ist schon schwer. Begibt man sich nun ins Geschehen hinein, wird man selbst auch noch zum bewegten Punkt im Koordinatensystem, der gleichzeitig seinen Blickwinkel in allen Richtungen verändern und dabei womöglich auch noch selbst rück- oder seitwärts laufen muss.

So wie bei der Demonstration am Samstag in Nürnberg. Ich hatte nur am Tag zuvor im Polizeibericht die Ankündigung von Verkehrsproblemen gelesen, wusste also nicht einmal, was mich erwartet, außer dass »mehrere Tausend« Teilnehmer zu einer Demo in der Nürnberger Altstadt zusammenkommen würden. Eine gute Möglichkeit zum Üben, also den Fotorucksack geschnappt und hin. So stand ich, lief ich über drei Stunden lang mit (es stellte sich als Demonstration von Türken gegen kurdischen Terror heraus), war einerseits fast erschlagen von der Größe der Veranstaltung (7000 sagte die Polizei, ich hätte mehr geschätzt), andererseits positiv überrascht von der gutgelaunten Atmosphäre. Das sollte man nicht falsch verstehen; hier war viel Nationalismus zu spüren, und die vielen Sprechchöre auf türkisch, in denen das Wort PKK vorkam, waren sicher keine Segenswünsche. Aber der Aufmarsch war letztlich ein großes, fröhliches Familientreffen inklusive Oma und Kleinkind, und so hatte ich selbst zumindest keine Rempeleien zu befürchten; viele waren offen und schienen sich sogar zu freuen, dass ich sie ablichtete.

Die Zeit verging wie im Flug; eine Reihe Aspekte, die ich zeigen wollte (kleine Kinder, Bereitschaftspolizei, Fahnenmeer, fäusteschüttelndes Skandieren) konnte ich festhalten; mir gelang es sogar, die Abschlusskundgebung von oben zu fotografieren, mal eben vom oberen Stockwerk eines Drogeriemarkts aus durchs Fenster. Und dafür, dass es das erste Mal war, habe ich mein Ziel erreicht, sowohl ein paar brauchbare Einzelaufnahmen als auch eine ganze Serie als fotografische Dokumentation mitzubringen. Zumindest können sie neben der Bildfolge der Nürnberger Zeitung durchaus bestehen, finde ich.

Aber Himmel, gibt es noch viel zu lernen! Mich aktiver in die Menge zu werfen und bewusst auf Menschen zuzugehen, anstatt immer noch lieber den Unbeteiligten mimen zu wollen. Das sekundenbruchteilige Chaos vor der Linse besser in den Griff bekommen, hin auf Gesichtsausdrücke, Gesten, abgeschnittene Körperteile, Hintergrund etc., dazu die Aufnahmeparameter der Kamera immer im Auge behaltend (eine Konzentrationsaufgabe, die mir im gesamten Ausmaß derzeit schier übermenschlich scheint und meinen Respekt vor den Helden von Magnum ins Unermessliche wachsen lässt). Aber auch, dass ich für letztlich 30 gute Aufnahmen 360 mal auf den Auslöser drücken musste und die drei Stunden mit einer solchen Nervosität verbrachte, dass die Anspannung noch am Sonntagnachmittag in meinem Kopf war, daran werde ich wohl noch arbeiten müssen.

[Ich zeige hier nur ein paar Bilder; die Serie gehört erst einmal nicht hierher, sondern in meinen Fotokurs, wo sie mein Dozent sicher nochmal gut auseinandernehmen wird...]

[...]
Ich finde, aus der Luft betrachtet ist die bretonische Landschaft noch viel grandioser als ohnehin.

(weiter in den Kommentaren)

Gut, dass ich meinen Kalender dabei hatte.
Auf der Hinfahrt durch glücklichen Zufall in Belgien an der ADAC Raststätte des Jahres 1975 Pause gemacht.

Am ersten Morgen nach der Ankunft einem Gendarmen in Uniform mit Baguette unter dem Arm begegnet. Die Fremdenverkehrsämter scheinen einigen Aufwand für dieses Frankreich zu betreiben.

Schon drei Nächte in kleinen Hotels decken Ihren Jahresbedarf an dicken, miefigen Stofftapeten.


Serviervorschlag
Richtig in Frankreich ankommen heißt, zu einem Glas Orangina in ein Sandwich Jambon (knapp 40 Zentimeter langes Stück Baguette mit gesalzener Butter und dickem, saftigen Kochschinken) beißen zu können. Dazu bräuchte man nicht mehr als eine dunkle Einheimischen-Bar in einem gottverlassenen Straßendorf in der Picardie; in der Sonne sitzen und auf einen pittoresken Hafen blicken zu können: geht aber auch.

Neben Landwirtschaft, Fischfang und Tourismus ernährt sich der Bretone seit einigen Jahren zusehends von Immobilienvermittlung.

Keine Beschränkungen, Münzdrehkreuze, Korbverleihe, Maschendrahtzäune, Parkgebühren an den Stränden. Meist nicht einmal irgendeine Strandbude, geschweige denn eine endlose Kette davon. Auch in den Städtchen Einschränkungen nur insoweit, wie sie wirklich notwendig sind. Was könnten sie nicht noch alles aus ihren Touristen rausquetschen, privat oder kommunal. Doch sie tun es einfach nicht. Du darfst hin, wo immer du hin willst, und nicht einmal in der engen, souvenirlädengesättigten Gasse vom Mont Saint Michel fühlt man sich übermäßig von Kommerz belästigt. Darum liebe ich diese Gegend ganz besonders. Und darum kotzen mich deutsche Nordsee- genauso wie die italienischen Küsten oft so an.

Verstörende Ausnahme: die globale Beschallung der verkehrsberuhigten Innenstadt in Dol-de-Bretagne, mit einem nervtötenden Privatsendergedudel und -brabbel aus Lautsprechern an jeder Ecke. Wer kommt auf eine solche Idee?

Der Strand meiner Kindheit.


dümpelnde Bötchen:
1a Urlaubsgefühl
Schnuckelige, luftige Ferienwohnung für die restlichen 9 Tage gefunden. Immer wieder der Blick aus dem Fenster auf die kleine, windgeschützte Bucht mit dümpelnden Bötchen.

Bretonische Straßenmärkte sind ein Traum. Meeresfrüchte, -tiere, Gemüse und Obst, Fleisch aller Art, Brot und Gebäck: Was für eine überwältigende, appetitliche Auswahl.

Der Deutsche kennt im wesentlichen Hähnchen und Suppenhuhn. Der Franzose dagegen schätzungsweise 30 verschiedene Geflügelarten und -qualitäten, und alle haben verschiedene Namen und Preise! (Selbst der Brathähnchenmann hatte schon vier oder fünf verschiedene auf seinen Spießen.) Vorgenommen, beim nächsten Frankreichbesuch alles durchzuprobieren.

Kochen mit Gasherd, dieser leichte Gasgeruch: Auch so ein Urlaubsding.

Einen Tag hohe Wellen. Wie lange schon nicht mehr darin gebadet. Nach zwei Minuten keuchend wieder raus; sie waren einfach stärker als ich. Muss wieder fitter werden.

Das Ende der Bestellung oder Frage abwarten ist des bretonischen Kellners oder Händlers Sache nicht.

Für meine Möwe war es ja quasi ein Verwandtenbesuch.
Von Woche zu Woche ein paar geschlossene Läden mehr. Versprengte Rentner an der Hafenpromenade. Halbleere Restaurants am Abend, noch leerere Straßen. Melancholie und Ruhe im Spätsommerlicht: Wunderbare Tristesse der Nachsaison.

Es hätte länger sein dürfen. Wie immer.

Die Falken sind leider weiter gezogen.

nach dem Gewitter


wieder kein Gewitter (seufz)

Pausenbild
Wo verstecken die sich bei Tageslicht? Von den letzten Punkten im Rückspiegel hin zu den roten Lichtern an der nächsten Bergkuppe gleite ich seit über einer Stunde vorbei an einer einzigen, ununterbrochenen Kette von Lastwagen. Nicht nur an fahrenden. Noch der kleinste unbeleuchtete Rastplatz ist dicht, Lastzüge von überallher parken teilweise bis in die Autobahn zurück. Transporter an Transporter: Milch und Benzin, Autos, Tiere, Folien, Lebensmittel, Maschinen, Container und Kranteile, ich schwimme durch einen gigantischen Strom von Waren und Gütern; die LKW-Kolonnen bei Tag, über die man sich gerne ärgert, dagegen ein Plätschern. Ich werde heimlicher Zeuge des nächtlichen Nährstoffwechsels Europas.

»Fahr nach Hause, Kleiner,« rufen sie mir zu, wie sie in bis zu drei Reihen mit singenden Reifen nebeneinander fahren, »du hast hier nichts verloren«. Tatsächlich bin ich praktisch allein, erst nach unglaublichen 100 Kilometern Fahrt sehe ich den ersten anderen PKW in meiner Fahrtrichtung. Hunderte Male fuhr ich die Autobahn schon entlang, bei Nebelschwaden, Platzregen, in stillem Abendrot und bei Schneetreiben, ich sah sie unter Urlaubermassen ächzen und wie sie sich während eines WM-Spiels gähnend in der Sonne räkelte, ich dachte, ich kenne sie auswendig. In einer Dienstagnacht um drei hat sie mir ihr Doppelleben gestanden.

In der Türkei drucken sie Noten und Kleinanzeigen auf Salzseen.

[viel schönere Salzsee-Fotos hier: klick]