Die Genugtuung mag billig sein. Doch es ist nicht das Schlechteste, wenn man die »Zeit« aufschlägt und einem eine ganze Serie von Artikeln entgegenfällt, die derart klar eine schon lange gehegte Einstellung bestätigt. Nur ein paar Zeilen daraus:
Hier ruht ein Wohlstandsbürger, gestorben an falschem Essen - wer will schon diese Inschrift auf seinem Grabstein haben? Und doch prasst und völlt sich jeder Dritte von uns verfrüht unter die Erde, behaupten Epidemiologen. Bei zu viel Fett auf dem Teller, zu viel Zucker im Becher drohen Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs. Die düsteren Botschaften kommen an: Bang überdenken wir unseren Speiseplan. Nur wie überdenken? Die Flut von Tipps ist überwältigend - und voller Widersprüche.
[...]
Häufiger einen Salat oder Apfel, Hände weg vom Salzstreuer, lieber Fisch statt Fritten und vielleicht mal ein Glas Milch - das ist vorläufig alles, was vom Getöse bleibt.
[...]
Nur ausgenüchterte Ernährungsforschung hätte Chancen, vielleicht doch noch ein klares Wirkgefüge zwischen Nahrung und Krankheitsrisiko zu erkennen. Die ratlose Zwischenzeit dürfen auch die strengsten Gesundesser zum Genießen nutzen - und jeder Schlagzeile, die ihnen mit Zahlen und Vorschriften ins Essen pfuschen will, getrost mit Skepsis begegnen. [Birgit Herden, Einfach Essen, Zeit Nr. 46/06, leider nicht online]
Genau das werde ich weiterhin tun.
Mir ist schleierhaft, was selbst respektable Bands immer noch dazu bringt, im letzten Stück einer CD nach ein paar Minuten Stille nochmal nachzulegen. Soll das irgendwie bedeutungsvoll sein? Oder lustig? Das war es noch nie, und auch der Überraschungseffekt hat sich nach dem ersten Hören erschöpft. Es erinnert an 80er-Jahre-Thriller, in denen Bösewichte, Minuten nachdem sie erstochen, erschossen und 50 Meter tief durch Treppenhäuser und Glasdächer gefallen waren, immer nochmal mit der Waffe in der Hand aufstehen mussten. Albern. Und ärgerlich, weil man dieses Stück Musik für den Rest seines CD-Lebens nie sauber ansteuern kann.
Heute musste ich raus, trotz unangenehmem Novemberwetter. Vor ein paar Tagen merkte ich, dass ich in den ganzen letzten Wochen durch den Umzug und die vielen zu erledigenden Dinge nie spazieren war und wie sehr mir der Geruch von frischem Laub fehlt. Am späten, trüben Nachmittag stiefelte ich los in Richtung Weiher und Wald. Mir fiel auf, dass die einzigen unter 70, die ganz normal spazieren gingen, Kinderwagen schiebende Eltern waren. Ansonsten scheint man sich sonntagnachmittags draußen nurmehr zum Joggen oder Herumeiern aufzuhalten, mit oder ohne klappernde Stöcke. Als ich an den Weihern ankam, dämmerte es schon und es blies ein heftiger Wind, der sich laut im meterhohen Schilf verfing. Ich lief weiter in den Wald, und zwischen all den Nadelbäumen fiel mir wieder auf, wie sehr ich hier den echten Laubwald vermisse, so wie es ihn an der Stadtgrenze zu Mülheim gab, wo ich aufgewachsen bin. Dort fuhr ich als Kind und Jugendlicher viel mit dem Fahrrad herum, meist alleine; ich liebte es, die Wege zu verlassen und vor allem im Herbst, mit den Füßen durch das hohe Laub zu stiefeln. Dieser Wald mit seinem ununterbrochenen Rauschen der nahen Autobahn war die richtige Kulisse für meine Einsamkeit, denn einsam und traurig fühlte ich mich oft, und dort konnte ich das Gefühl zelebrieren. Einmal, als es besonders heftig war, zog ich mich sogar aus, mitten im Wald. So stand ich da, ein kleiner Junge, nackt zwischen den Bäumen. Hätte mich nicht ein alter Mann entdeckt, der mir eine kräftige Ohrfeige gab, vielleicht wäre es zur Gewohnheit geworden.

In diesem Alter, so ungefähr mit sieben oder acht, legte ich mir auch einen ganz bestimmten Traum zurecht, in den ich mich meist abends vor dem Einschlafen einrollte. Ich liege in einem dunklen Waldstück, weitab vom Weg, und kann mich nicht vom Fleck rühren. Mein Bein ist gebrochen, ich rufe lange um Hilfe. Irgendwann läuft zufällig sie in der Nähe vorbei, wird auf mich aufmerksam und findet mich. Sie hebt mich hoch, ich halte mich an ihren Schultern fest, und sie trägt mich aus dem Wald, ruft einen Krankenwagen und begleitet mich zum Krankenhaus. Natürlich nicht, ohne mir in die Augen zu sehen und sich in mich zu verlieben. In der zweiten Variante des Traums tauschten wir die Rollen; diesmal war sie verletzt und ich derjenige, der sie finden würde.

Ich habe diesen Traum geliebt. Die Besetzung der weiblichen Rolle darin war, im Nachhinein gesehen, offenbar nebensächlich, meist war es ein Mädchen aus meiner jeweiligen Klasse, das mir gefiel und an das ich meine Sehnsucht knüpfen konnte. Die schöne Traurigkeit und mein Selbstmitleid waren stark und ich konnte sie auch als Jugendlicher noch stundenlang konservieren, wenn ich zuhause im dunklen Zimmer auf meinem Schrank saß, nach draußen auf die im Laternenlicht nass glitzernde Straße sah und passende Musik hörte, wobei ich ab und zu hinunter steigen musste, um den Tonarm vom Plattenspieler wieder an den Anfang zu setzen.

Heute sind von diesem Gefühl nur noch Schemen geblieben. So schwach, dass es nach ein oder zwei abschweifenden Gedanken wieder entgleitet. Die Zeit ist vorbei; ich weiß, dass ich niemanden mehr retten muss, um in meinem Wesen erkannt zu werden, und auch mich muss niemand mehr aus meiner Einsamkeit tragen. Meine Ehe war vielleicht der letzte Versuch dieses Lebensgefühls, sich durchzusetzen. Nur manchmal noch, selten, ruft es mich jetzt von weitem, besonders im Herbst. Und so konnte man heute im Halbdunkel sehen, wie eine Gestalt den Weg verließ und quer durch den Wald stolperte, zwischen eng stehenden Baumstämmen hindurch über Brombeersträucher und gefallene Äste. Wäre es nicht derart feuchtkalt gewesen, sie hätte sich womöglich mittendrin auf den weichen Boden gelegt und eine Weile so verharrt, regungslos.

Hm. Tja. Dann also jetzt Winter.
Wir haben derzeit einen prächtigen sardischen Torrone da. Honig, Eiweiß, Mandeln, nur mit schwerem Gerät zu portionieren (dafür erstaunlich gut zu kauen):

Die frische Abbruchkante ist hart, so wie Torrone bei Zimmertemperatur überhaupt fest ist und eine trockene Oberfläche hat. Nun hatten wir aber den süßen, aromatischen Brocken auf einem Teller in den Kühlschrank gestellt, warum auch immer. Wahrscheinlich, damit er nicht mürbe wird. Doch was passierte, war das:

Wie man sieht, wird die Oberfläche glänzend; ein Teil der Masse fängt an zu fließen und bildet schließlich eine Pfütze auf dem Teller. So zähflüssig, dass man den Teller kopfüber halten könnte, ohne dass es tropft.

Trocken und hart bei Zimmertemperatur, aber schmilzt im Kühlschrank: Wie funktioniert das denn? Kann das jemand erklären?

heute war Kondensstreifentag

Auch wenn ihn Georg und Walburga seit 500 Jahren damit aufzogen:
Jay-C. fand nicht, dass sein Hüftschwung »schwul aussah«.
Haben: Wunderbare CD von Nada Surf angekommen. Zuhause erfolgreich Drahtlosnetzwerk mit XP und Windows 2000 eingerichtet (Vom Notebook aus drucken! Wieder Platz für Fotos! Parallel mit der Möwe surfen!). DSL geht auch wieder. Von der Möwe Tagliatelle mit Hähnchen, Kirschtomaten, Pinienkernen und handgemachtem Pesto gekocht bekommen.

Soll: 4 Minusstunden auf der Arbeit wg. plötzlicher, tiefer Herbsttraurigkeit am Nachmittag. Auf dem Nachhauseweg an der Stelle, wo ich in den letzten sechs Wochen schon sieben Auffahrunfälle gesehen habe (Autobahneinfahrt mit Stopschild), Opfer eines ebensolchen Auffahrunfalls geworden (mittlerer Blechschaden, Heck vermutlich verzogen). Abends Anruf der Käuferin, die am Montag die gebrauchte, zuvor einwandfrei funktionsfähige Spülmaschine gekauft hat: Pumpe kaputt. Geeinigt, Geld teilweise zurückzuzahlen. Wunderbare CD von Nada Surf im Büro liegenlassen.

Mit einem Wort: Durchwachsen.

So ein Ding brauche ich auch.
Fr. Etosha hat mich mit ihrem vergnüglichen Seminarleitfaden an die verquerste Schulung erinnert, die ich je zu halten hatte, bei der dermaßen viel schief ging, dass es schon fast wieder lustig war.

Ich arbeitete bei einer kleinen Firma, die sich (noch lange vor eCommerce und Blogs) dem Content Management verschrieben hatte, mit Hilfe von SGML, dem Vorläufer des heute verbreiteten XML. Kunde war eine mittelständische Druckerei aus Luxemburg, die eine extrem umfangreiche Dauer-Fachpublikation im Auftrag des Staats herzustellen hatte, jeden Tag so um die 4 bis 8 Hefte à 48 Seiten. Deren IT-Abteilung sah irgendwann ein, dass die Produktion angesichts ständig steigenden Volumens und Forderungen nach elektronischer Veröffentlichung nicht mehr das Gelbe vom Ei war, solange man mit einem auf Papierlayout angelegten Werkzeug wie Quark XPress arbeitete; sogar die Inhaltsverzeichnisse wurden noch von Hand gemacht. So kam man mit uns ins Geschäft. Wir schneiderten ein Content-Management-System zurecht, schraubten dazu Datenbank, Editor und Satzprogramm zusammen und lieferten alles aus. Schon bis dahin gab es immer wieder Probleme, weil sich die Vorgaben der Druckerei als unzureichend herausstellten. Es fing damit an, dass das beschriebene Datenmodell ausschließlich Deutsch, Französisch und Englisch als Publikationssprachen vorsah und es nur wenige Stunden dauerte, bis ich im überlassenen Stapel von Beispielausgaben auf einen Artikel in einem merkwürdigen Dialekt stieß, der sich nach kurzer Recherche als Lëtzebuergesch herausstellte. So ging es im Projekt weiter, für nahezu jede Vorgabe fand sich nach etwas Suchen ein Gegenbeispiel. Das hätte uns zu denken geben sollen.

Nach einem sehr holprig verlaufenen Pilotierungs-Start bat man uns, das neue Redaktionssystem auch den eigentlichen Benutzern beizubringen. Das war mein Job und so fuhr ich für drei Tage nach Luxemburg. Es fing damit an, dass Sommer war, jeden Tag über 32 Grad und sehr schwül. Der einzige klimatisierte Raum, den ich noch als angenehmen Besprechungsraum kennengelernt hatte, war inzwischen der Serverfarm der Druckerei gewichen, so dass die Schulung in einem stickigen Großraumbüro stattfinden musste. Direkt nebenan befand sich, nur durch dünne Fenster getrennt, die Druckereihalle, deren Maschinen uns einen irrwitzigen, konstanten Lärmpegel bescherten. Nicht genug, es gab weder Leinwand noch Overheadprojektor, von einem Beamer ganz zu schweigen. Nun gut, mit ausgedruckten Unterlagen und Flipchart ließ sich auch schon einiges reißen, wenn es auch für den praktischen Teil etwas, nun ja, umständlich war, die Software einem Dutzend Leuten an einem einzigen Monitor zu demonstrieren. Wir hatten zudem nur das halbe Büro (in dem sich keine Trennwände befanden) zur Verfügung, in der anderen Hälfte saßen allen Ernstes Leute, die normal weiterarbeiteten. Und ich, der ich meine ganze Schulung auf die übliche Zielgruppe »Redakteur« abgestellt hatte, musste schon in der ersten Stunde feststellen, dass mein ganzer Aufbau Käse war. Die Teilnehmer waren angelernte Schreibkräfte und kannten nicht mal Internet oder Webbrowser; wie sollte ich Ihnen da auch nur etwas über HTML erklären? Mein Fehler, ganz klar, nicht ausreichend vorbereitet.

Bis hierhin war alles noch sportliche Herausforderung, da machte es auch schon keinen Unterschied mehr, dass drei Teilnehmer nur Französisch sprachen, so dass ihnen ständig jemand nebenher aus dem Deutschen übersetzen musste. Das eigentliche Problem lag aber noch ganz woanders. Wie sich herausstellte, hatte unser Ansprechpartner aus der IT-Abteilung nämlich zuvor schon versucht, das Redaktionssystem zu schulen, wurde aber von den Teilnehmern derart mit Beschwerden überhäuft, dass er abbrach und stattdessen meine Firma bzw. nun mich als externen Trainer vorschickte. Und was sich im Projektverlauf schon unterschwellig gezeigt hatte, nämlich dass Vorgaben und Wirklichkeit nicht immer zusammenpassten, verdichtete sich zur Gewissheit: Große Teile des Redaktionssystems waren an der Realität vorbei entwickelt worden. Es gab viele weitere Geschäftsregeln und Sonderfälle, nach denen die Publikation funktionierte, von denen wir nie gehört hatten und die unsere Lösung natürlich nicht abdecken konnte. Die IT-Abteilung der Druckerei hatte offenbar niemanden von den eigentlichen Benutzern eingebunden, die dieses ganze Wissen besaßen und stets untereinander weitergegeben hatten.

Und der Grund dafür? Dumme Arroganz. Es waren ja alles nur Schreibkräfte, die hatten nichts mitzureden und schon gar keine Ahnung vom Geschäft, meinte man. Entsprechend wurde auch ihre Kritik nicht ernst genommen, im Gegenteil. Wer dort den Mund aufmachte, dem wurde wohl auch schon mal vor Augen gehalten, wie schnell ein anderer gefunden sei. Oder besser gesagt: eine andere. Denn natürlich waren die meisten betroffenen Mitarbeiter weiblich (die IT-Abteilung hingegen komplett männlich). Auf diese Weise wurde ich - wie ich fand auf durchaus hinterhältige Weise - in einem ganz anderen Konflikt instrumentalisiert. Vielleicht war es meine freundliche Art, wahrscheinlich aber auch nur das Stockholm-Syndrom: Ich versuchte zu retten, was ging, und mir nebenher alles zu notieren, was noch nicht ging. Und dankbar, dass ihnen jemand zuhörte, baten mich am Ende die Teilnehmer, ob nicht ich nochmal mit der Geschäftsleitung sprechen könne, dass die Software in dieser Form unbrauchbar sei und sich damit nicht arbeiten ließe. Das muss man sich vorstellen, wie es um die Kommunikation und Kultur in einer Firma bestellt ist, wenn die Angestellten einen ahnungslosen, dahergelaufenen Jungspund im Anzug bitten, ihren Standpunkt bei den eigenen Chefs zu vertreten.

Ich tat meine Pflicht, gab nach oben weiter, was nicht ging und warum, und mahnte an, in Zukunft die Benutzer einzubinden. Ansonsten war ich heilfroh, von dieser Schulung nach Hause fahren und danach nie wieder etwas für das Projekt tun zu müssen, wo ich zum Zeitpunkt der Schulung schon einen Arbeitsvertrag mit einer anderen Firma in der Tasche hatte. Ob das Projekt jemals zum Fliegen kam, weiß ich nicht einmal. Aber dafür, wieviel Geld und Zeit man sinnlos vernichten kann, wenn man nicht einmal das Wissen seiner einfachen Angestellten kennt und schätzt.

zwischen Büchenbach und Steudach
Schon seit einem Dreivierteljahr verweigere ich erfolgreich die Annahme von Blogger-Stöckchen. Und Ihr wisst gar nicht, wieviel Überwindung mich das jedesmal kostet! Aber nachdem ich jetzt erneut von zwei Seiten freundlich beworfen wurde (und weil's gerade passt), will ich mal nicht so sein.

Fünf Dinge, die ich nicht habe, aber gerne hätte
Verhandlungssicherheit
so eine bretonische Insel mit Fort
die Fähigkeit, Songs zu schreiben
eine LaSpaziale S1 Vivaldi
noch zwei Wochen richtigen Urlaub (nach drei Wochen Umzug)

Fünf Dinge, die ich habe, aber lieber nicht hätte
den letzten freien Tag heute
Schlafprobleme, regelmäßig
wenig Durchhaltevermögen (körperlich, geistig)
einen Bauchansatz
noch nicht erledigte Steuererklärungen für '04 und '05

Fünf Dinge, die ich nicht habe und froh bin, nicht zu haben
Schulden
ernsthafte Krankheit oder Allergie
Verbitterung
zuviel Besitz
Bezahlfernsehen

Fünf Dinge, die ich habe und gerne habe
Gottvertrauen
ein Leben zusammen mit der Möwe (jetzt auch unter einem Dach)
meine Söhne, meine Familie, meine Freunde
Arbeit
meine Augen und Ohren


Und das nächste Stöckchen gibt es frühestens im Sommer 2007, dass das mal klar ist. Wenn mir mein Durchhaltevermögen nicht dazwischen kommt.
Das Universum besteht zu 99,8% aus Kram. Undefinierbarem, nicht mehr zu kategorisierendem Kram. Dem, was z. B. bei einem Umzug noch in der alten Wohnung herumsteht, weil es in keinen Karton, kein Zimmer, keinen Zweck mehr passte, aber dennoch da ist und jetzt um so grimmiger sein Dasein verteidigt. Die direkt aus den Gesetzen der Natur folgende Vermehrung von Kram ist nur durch regelmäßiges, beherztes Aussortieren und gelegentliche Hilfe kommunaler Entsorgungsdienste leidlich einzudämmen. Ganz beseitigen können wir ihn nicht - immer noch wird es irgendwo ein-zwei Schubladen geben, wo er sein Dasein fristet, von denen aus er sich irgendwann wieder ausbreiten wird. Nur tragische Gestalten glauben an die verborgene Existenz eines ausgefuchsten Ordnungssystems, mit sich Kram eines Tages eliminieren lasse. Machen Sie es besser: Werden Sie wieder Kind. Lernen Sie, mit Kram zu leben.
Ein Schild in einer neuseeländischen Stadt mit dem Piktogramm einer Überwachungskamera. Dazu der Text »Show us your good side« und unten, kleiner: »We're looking after you«.

Es reicht nicht, überwacht zu werden. Wer hier entlang geht, wird auch explizit aufgefordert, sich nicht mehr ungezwungen zu bewegen. Einem anonymen Uns muss gefallen, wie ich mich verhalte; nebenher wird unterstellt, man habe nicht nur eine ungute Seite, sondern auch vor, sie zu zeigen. Wer diese unsichtbaren Beobachter sind, wer sie nach welchen Kriterien ausgesucht hat, was sie dazu legitimiert, mich zu kontrollieren, was sie für meine gute Seite halten und was nicht, wird nicht deutlich, aber offenbar täte ich gut daran, es zu wissen.

Anderswo versucht man drumherum zu reden, dass, wer ins Visier einer Videoüberwachung gerät, von einer Sekunde auf die andere zum potentiellen Übeltäter wird, sobald er nur noch ein Haufen Pixel auf dem Schirm eines Überwachungszentrums ist. Hier ist man ehrlich, doch die Art und Weise, in der damit kokettiert wird, verursacht Übelkeit. Es geht nicht mehr um abstrakte oder reale Straßenkriminalität und ihre Bösewichte: Du selbst bist das Beobachtungsobjekt. Verhalte dich ja nicht merkwürdig. Wir haben dich im Blick.

»We're looking after you« - das ist noch die dazu passende, in Zuckerwatte gewickelte Drohung, wie sie ein Schutzgeldeintreiber nicht zynischer ausdrücken würde. Das Versprechen einer Fürsorge, die mich vor mir selber beschützen will, vor »Seiten« von mir und anderen, über die jetzt namenlose Security-Leute wachen. Die uns einreden muss, wir seien nicht in Ordnung, damit wir ihr bereitwillig unsere persönliche Freiheit opfern.

Eine Fürsorge, deren konsequenteste Form nur eines sein kann: das Gefängnis.
Wie lautet eigentlich die Frage, worauf eine bundesweite Schülerdatei (u. A.: »Schul- und Wohnortwechsel, soziale Stellung der Eltern, nationale Herkunft, Umgangssprache in der Familie«) die Antwort sein soll?
Hin- und hergerissen sein. Einerseits genießen, dass die Arbeit wieder Spaß macht. Das Gefühl, gemeinsam im Team was auf die Beine zu stellen, nachdem die Organisation so lange gelähmt war. Dennoch die Befürchtung, wie das Erreichte in den nächsten 15 Monaten wieder Stück für Stück von vermeintlichen Sachzwängen aufgefressen wird, bis am Ende eine grotesk verzerrte Form übrig bleibt, aus der wichtige Eigenschaften herausgenommen, im Gegenzug Pillepalle hineingepresst wurde von Leuten, die gute Ideen schon deshalb zerpflücken müssen, um ihre eigene Wichtigkeit im Unternehmen zu unterstreichen. Sicher, das ist im Moment Spekulation, aber es sollte mich schon sehr überraschen, wenn es ausnahmsweise anders wäre.

Dazu das Wissen, dass es einfach zuviel ist. Heute, morgen, übermorgen kulminiert der Stress, ich darf in jeweils vierstündigen Reviews (kennt eigentlich jemand ein gutes deutsches Wort?) meine drei Dokumente mit Produktspezifikationen freigeben, die in den letzten Wochen entstanden sind. Jeweils mit Telefonkonferenz in die Staaten, Netmeeting etc. und nicht zu vergessen zum ersten Mal in einem größeren Kreis, der einerseits immer noch in der alten Produktwelt lebt, die wir gerade verlassen, andererseits vom neuen Produkt erwartet, es werde nun endlich nicht nur alle Anforderungen der bestehenden, sondern auch noch der zukünftigen Welt umsetzen, in einer Entwicklungszeit, die ein Bruchteil der bisherigen sein soll.

Wie gesagt, ich bin zwiespältig, denn - und das ist verdammt nicht wenig - es macht seit langem auch wieder Freude. Sehen, dass etwas Sinnvolles entsteht, dass ich auch »schwierige« Kollegen für meine Vorstellungen gewinnen kann, mich von ihrer völlig anderen Denk- und Arbeitsweise nicht verrückt machen lasse, sondern sie als Bereicherung akzeptiere. Ein eher anstrengender Kollege beispielsweise, der tatsächlich einen bis auf die letzte Stunde ausgestalteten Plan für die vergangenen vier Wochen geschrieben und ständig auf dem Laufenden gehalten hat, ohne den wir (vor allem auch ich) unweigerlich den Faden verloren hätten. Daneben die Hoffnung, vielleicht am Ende doch die wichtigsten Ideen bis ins Produkt zu bringen.

Nebenher laufen die Umzugsvorbereitungen, um die ich mich im Moment noch kaum kümmern kann, was dagegen die Möwe tut, der ich dafür sehr dankbar bin. Und auch, wenn ich im Moment an der Ecke nichts ausrichten kann, beschäftigt mich sehr, dass mein Großer sich in den letzten Monaten immer mehr in etwas hereinsteigert, dass er nicht mehr zu mir kommen will, aber auch nicht mehr in seinen geliebten Fußballverein geht, dass er versucht, seine Mutter auf Schritt und Tritt festzunageln, nicht mal mehr ein paar Stunden bei seinen Großeltern bleiben will. Die Psychologin meint etwas von »Zwangsdenken«, hat aber offenbar auch nach mehreren Wochen noch keinerlei Rat, wie wir ihn aus diesem Film wieder rausbekommen. Das Schlimmste ist, zu sehen, wie unglücklich er selbst dabei ist. Auf der anderen Seite wissen, dass es nicht gut sein kann, wenn ein Neunjähriger mit seinem Verhalten über längere Zeit mittelbar bestimmt, wie sein kleiner Bruder sowie mehrere Erwachsene ihre Zeit verbringen. Dazu, von hier aus der Ferne mit den paar Telefonaten keinerlei Hebel zu haben, nicht an ihn ranzukommen - und zu mir kommen ist ja nicht mehr drin. (Glauben Sie mir, das hat keinen Zweck, ihn zu zwingen.) Ich vermisse die beiden.

Alles in allem laufe ich im roten Bereich. So, dass ich aus Angst vor Unaufmerksamkeit im Verkehr den Rest der Woche lieber mit dem Bus zur Arbeit fahre. Und mich auf die nächsten zwei Wochen freue, in denen wir endlich umziehen. Zwei Wochen Urlaub von der Arbeit. Wo ich nur schleppen, schrauben, wenig denken oder erklären muss. Die neue Wohnung wird schön. Dann wird auch der Kreisel in meinem Kopf aufhören sich zu drehen und ich schlafe wieder durch.